„Ich habe das Gefühl, mich selbst wieder zu haben.“

Sophie* ist Gestalterin und 25 Jahre alt. Sie hatte sich überarbeitet, den Bezug zu sich selbst verloren, war überfordert mit emotionalen Themen und wusste nicht, wie sie mit ihrer Hochsensibilität umgehen kann. Es war ihr Wunsch, bestimmte familiäre Muster nicht „in die nächste Generation mitzunehmen“. Im Interview berichtet sie, dass sie gelernt hat, ihre eigenen Grenzen wahrzunehmen und ihre Bedürfnisse zu kommunizieren. Und wie sie es durch einen intensiven Prozess geschafft hat, sich selbst wieder wahrzunehmen.

Heute fühlt sich Sophie stärker, sortierter und selbstbewusster. Die Begleitung durch die Therapie half ihr, konkrete Herausforderungen anzugehen und neue Perspektiven zu gewinnen. Die Achtsamkeitsübung zu Beginn jeder Sitzung schenkte ihr ein wohltuendes Gefühl des Ankommens bei sich selbst.

* Meine Klientin möchte gerne anonym bleiben, daher habe ich ihren Namen geändert. Das Interview wurde am 6.12.22 geführt.

Labyrinth

Psychotherapie kann dabei helfen, zu sich selbst zu finden.

Judith: Was hat dich dazu motiviert, psychologische Beratung aufzusuchen?

Sophie: Ich war in vielerlei Hinsicht nicht zufrieden und habe mich nicht wohl gefühlt. Ich war überfordert mit emotionalen Themen, die in meiner Familie, in Freundschaften und in Romanzen aufgetaucht sind. Im Sommersemester im ersten Corona-Lockdown habe ich mich maßlos überarbeitet und völlig den Bezug zu mir selbst verloren. Da habe ich gemerkt: „Ich muss mir helfen lassen, weil ich das allein nicht sortiert bekomme.“ Von diesem Zeitpunkt an hat es aber trotzdem noch weitere zweieinhalb Jahre gedauert, bis ich es angegangen bin.

Hattest du Ziele für die Sitzungen? Oder Themen, die du dir genauer anschauen wolltest?

Das Thema „Hochsensibilität“ hat mich beschäftigt, weil mir dadurch manchmal ein paar Steine im Weg standen und ich in einigen Situationen überfordert war. Ich habe gemerkt, dass es mir in stressigen Situationen – zum Beispiel im Studium – schwer fiel „Nein“ zu sagen und Grenzen einzuhalten. Das war am Anfang das Einzige, was ich mir eingestehen konnte. Ich habe viele weitere Themen erst während der Therapie bemerkt.

Welche Themen sind aufgetaucht?

Ich wusste nicht, wie tief einige Themen liegen, die mit meiner Familie zu tun haben. Es war für mich ein großer Schritt, auch mal von Erlebnissen in meiner Familie zu sprechen, die für mich negativ waren – ohne mich dabei schlecht zu fühlen. Außerdem war auch meine Angst vor dem Verlassenwerden in jeglicher Hinsicht präsent. Und dann gab es noch das Thema „Grenzen“: Meine eigenen Grenzen zu bemerken und mich zu trauen diese dann auch zu kommunizieren.

In der ersten Sitzung hast du gesagt, dass du bestimmte Verhaltensmuster „nicht in die nächste Generation mitnehmen“ möchtest. Kannst du erläutern, was dahintersteckt?

Mir war zu dem Zeitpunkt gerade klar geworden, wie viele Dinge in der Familie meiner Mutter „schiefgelaufen“ sind und wie Muster weitergegeben worden sind. Mir wurde klar, warum meine Mutter so ist wie sie ist: Weil sie manche Themen nicht angegangen ist und weil damals nicht richtig darüber gesprochen wurde. Und ich habe bemerkt, dass auch mit mir häufig nicht offen gesprochen wurde. Erst vor kurzem habe ich von wichtigen Ereignissen erfahren, die Teil meiner Familiengeschichte sind.

Auf der einen Seite war ich wütend auf meine Mutter, weil sie das nicht reflektiert und einfach an mich weitergegeben hatte. Und auf der anderen Seite hatte ich plötzlich sehr viel Verständnis für sie. Ich habe gemerkt: Das will ich für meine Kinder nicht. Ich möchte nicht bestimmte Verhaltensweisen und Muster von meiner Mutter übernehmen – und sie dann selbst möglicherweise unreflektiert weitergeben.

Gab es Erkenntnisse oder Aha-Momente, die du während unserer Sitzungen hattest?

Ich habe verstanden, dass ich mich trauen muss, zu sagen, wie sich etwas für mich anfühlt und was ich denke – denn es steht mir nicht auf der Stirn geschrieben. Ich habe gemerkt, dass ich oft hohe Erwartungen an Menschen hatte, die ich nicht kommuniziert habe. Und dann war ich enttäuscht, wenn diese Erwartungen nicht erfüllt wurden – obwohl sie nie besprochen worden waren. 

Jetzt merke ich, dass es mir in manchen Situationen leichter fällt, damit anders umzugehen. Manchmal kann ich schon einen Tag später eine Angelegenheit aus dem Weg räumen, die ich sonst vermutlich ein halbes Jahr mit mir herumgetragen hätte. Dabei ist es wichtig, selbst für mich zu formulieren, was ich überhaupt für eine Erwartung an eine Situation habe. Oft wusste ich das früher gar nicht und habe mich in Luftschlössern jeglicher Art verfangen. Ich konnte dann gar nicht mehr zwischen der Realität und meiner Gedankenwelt unterscheiden.

Was waren das für Luftschlösser? 

Vor allem in Bezug auf einen Mann habe ich mir Situationen ausgemalt, die ich mir gewünscht habe. Die sind dann so natürlich nicht eingetroffen. Dadurch war ich häufig verletzt und enttäuscht.

Was hat sich für dich verändert, seit du die Sitzungen begonnen hast?

Ich sehe in dem Prozess drei Abschnitte: Die erste Phase war richtig anstrengend für mich und es ging mir erstmal noch schlechter. Mir wurde klar, was ich für einen riesigen Ballast mit mir rumtrage. In dieser Zeit habe ich mich intensiv auf die Sitzungen vorbereitet und schon Tage vorher überlegt, was ich besprechen möchte. Und in den Tagen danach habe ich Dinge aufgeschrieben, die in mir ausgelöst wurden. In dieser Zeit konnte ich kaum etwas anderes machen. Es war sozusagen mein Hauptprojekt, an mir zu arbeiten.

Dann kam die Mittelphase: Ich hatte mich getraut, in den Sitzungen alles einmal anzusprechen und offen zu legen. Kurz hatte ich das Gefühl: „Das war’s jetzt.“ Und dann habe ich gemerkt, dass es jetzt erst richtig anfängt. In dieser Phase hat mich die Arbeit jedoch nicht mehr so runtergezogen, sondern ich habe gemerkt, dass sich etwas in mir bewegt und dass die Arbeit die ersten Früchte trägt. Ich hatte eine Übersicht über meine Themen erlangt. Ich dachte: „Das bist du und damit müssen wir jetzt arbeiten. Aber das ist okay.“

In der dritten Phase stecke ich gerade. Seit ein paar Wochen habe ich ein Hoch und fühle mich endlich wieder gewappnet. Ich habe das Gefühl, mich selbst wieder zurückzuhaben. An mancher Stelle fehlt es mir noch an Selbstbewusstsein und Stärke, aber ich weiß wieder, wer ich bin. Das war vorher drei Jahre lang nicht der Fall und es ist sehr schön, es wieder zu spüren. Es geht merklich bergauf und ich bin viel sortierter. Das gibt mir Aufschwung.

Heute ist deine 12. Sitzung. Ich finde, dieser Prozess ist bei dir ziemlich schnell gegangen.

Ich habe das Gefühl, dass schon viel mehr Zeit vergangen ist, seit ich die Sitzungen begonnen habe, als das tatsächlich der Fall ist. Wenn ich vergleiche, wie es mir letztes Jahr zu Weihnachten ging – da habe ich mich gar nicht gespürt. Und dieser Zustand fühlt sich sehr weit weg an, obwohl es nur ein Jahr ist. In dieser Zeit ist sehr viel in mir passiert.

Ich fühle mich manchmal schlecht, weil ich nicht wie andere Leute ein Master-Studium oder einen Job begonnen habe oder auf Reisen gegangen bin. Aber ich kann anerkennen, dass ich innerlich eine große Reise gemacht habe. Manchmal hat es sich nach einer Sitzung so angefühlt, als sei ich richtig hoch gesprungen.

Ich könnte mir vorstellen, dass es geholfen hat, dass du dir wirklich Zeit genommen hast, um in den Prozess einzutauchen.

Bei mir waren auch viele Themen akut. Ich habe mich mal mit dir auf ein Gespräch mit meiner Mutter vorbereitet, das ich dann ein paar Tage später geführt habe. Dann gab es eine Freundschaft, die mich intensiv beschäftigt hat. Ich hatte immer konkrete Beispiele, die ich mit dir besprochen habe und dann auch bis zur nächsten Sitzung angehen wollte. Allein hätte ich all diese Schritte nicht gemacht, da wäre ich noch immer in meinem Schneckenhaus.

Die Therapie war also die Begleitung, die du gebraucht hast, um dranzubleiben und Dinge anders anzugehen? 

Ja. Und manchmal hast du Rückfragen gestellt, die ich mir selbst nicht gestellt hätte. Das hat mir sehr dabei geholfen eine andere Sichtweise auf meine Themen zu bekommen. Im Gegensatz zu meinen Freunden kennst du ja die Menschen nicht, die mich beschäftigen.

Es war auch wichtig, dass es in unseren Sitzungen nur um mich geht und darum, dass ich mit meinem Leben zurechtkomme. Sonst frage ich mich oft, wie es anderen Menschen geht und wie ich ihnen eine angenehme Zeit bereiten kann. Häufig stelle ich meine eigenen Bedürfnisse hinten an. Da war es ein gutes Learning für mich, dass hier meine Bedürfnisse vorne stehen dürfen.

Und in deinem Leben?

Da auch immer mehr! Es gibt natürlich Situationen, in denen das nicht so ist. Aber es gelingt mir immer öfter, in einer Situation direkt zu bemerken, dass ich meine Bedürfnisse hintenanstelle – und nicht erst Monate später, wenn ich total enttäuscht und verletzt bin.

So wird es vermutlich auch bleiben. Man kann nicht immer alles perfekt umsetzen.

Ja. Und es gibt auch Situationen, in denen mein Bedürfnis einfach nicht an erster Stelle steht. Ich bin mir dann bewusst, dass ich es gerne anders hätte, aber weiß, dass es eben so sein muss. Aber ich entscheide mich dann bewusst dafür und es ist nicht bloß eine automatische Reaktion von mir, weil ich mich selbst immer hintenanstelle. Das ist für mich dann auch in Ordnung.

Das finde ich auch sehr wichtig. Sonst würden wir alle zu Egoist:innen werden.

Ich möchte auch nicht nur noch an mich denken. Es macht mich ein stückweit aus, dass ich ein empathischer Mensch bin und die Bedürfnisse anderer Menschen auf dem Schirm habe. Ich mag mich so und möchte mich nicht grundlegend verändern, so dass mir die Bedürfnisse anderer Menschen plötzlich völlig egal sind.

Bloß nicht. Gibt es noch etwas, das du abschließend sagen möchtest?

Einfach „danke“ (lacht). Ich bin sehr dankbar, dass ich dich gefunden habe und mein Leben mit dir zusammen „auf die Kette kriege“. Ich habe direkt am Anfang gemerkt, dass du ein Mensch bist, bei dem ich mich öffnen kann und auch möchte. Ich habe mich nie verurteilt gefühlt. Wenn ich von anderen Leuten höre, was sie für Therapeuten haben, denke ich: „Wie gut, dass ich hier bin.“ Ich mag auch, dass wir mit einer Achtsamkeitsübung anfangen. Das fiel mir am Anfang sehr schwer, aber ich habe gemerkt, dass es mir hilft bei mir anzukommen. Auch wenn das nur ein kurzer Moment ist, gibt es mir ein sehr gutes Gefühl, mir selbst so nah zu sein.

Vielen Dank für das Gespräch!

 
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„Jedes Ich in mir ist in Ordnung.“