„Jedes Ich in mir ist in Ordnung.“

Meine Klientin Marlene* (43 Jahre) ist Lehrerin und alleinerziehende Mutter. Sie hatte das Gefühl, dass es etwas in ihrem Leben gibt, das sie nicht sehen möchte und das sie daran hindert, sich weiterzuentwickeln. Im Interview berichtet sie, wie Selbstmitgefühl und Achtsamkeit ihr dabei geholfen haben, alle Teile von sich selbst anzunehmen, ihren Leistungsdruck abzulegen und gelassener zu werden. Wir sprechen über den Wert der Verletzlichkeit und die Akzeptanz schwieriger Gefühle.

* Meine Klientin möchte gerne anonym bleiben, daher habe ich ihren Namen geändert.

Frau, die zwei Hände auf die Brust legt

Wer regelmäßig achtsames Selbstmitgefühl praktiziert, kann mehr Akzeptanz für sich selbst finden.

Judith: Was hat dich dazu bewegt, psychologische Beratung in Anspruch zu nehmen?

Marlene: Ich hatte das Gefühl, dass es etwas gibt, wo ich nicht hingucke und dass ich mich deshalb nicht weiterentwickle. Ich wollte hinter meine eigene Fassade schauen und erfahren, was es ist, das mich bremst.

Was hast du denn im Laufe der Sitzungen über dich erfahren?

Unheimlich viel. Ich habe relativ schnell gemerkt, dass ich mir Vieles schönrede und dass ich Dinge ausblende. Das passt zu dem Bauchgefühl, das ich hatte. Für mich war es wichtig, dass du von Anfang an über Selbstgefühl gesprochen hast. Denn das fehlte mir total.

Kannst du erklären, was du mit „Selbstgefühl“ meinst?

Ich meine damit, Mitgefühl mit mir selbst zu haben. In den Sitzungen habe ich gemerkt, dass das ein Thema für mich ist. Und es war ein guter Schlüssel an das ranzukommen, was ich so gar nicht sehen wollte.

Was war es denn das du nicht sehen wolltest?

Ich glaube das war vor allem meine Härte mir selbst gegenüber. Und das Ausblenden von Dingen, das Nicht-Konfrontieren-Wollen, meine Weglaufmechanismen, die ich vorher gar nicht so empfunden habe. Ich habe mich immer eher als leistungsorientiert gesehen. Dass man jedoch nicht weiterkommen kann, wenn man sich selbst ständig unter Leistungsdruck setzt – den Gedanken hatte ich nie.

Hast du den Eindruck, dass sich durch die Therapie deine Einstellung dir selbst gegenüber verändert hat und dein Umgang mit dir selbst?

Ja, sehr.

Woran kannst du das festmachen?

Ich glaube, dass ich jetzt entschleunigt bin. Ich habe nicht mehr das Gefühl, dass ich etwas ganz Großartiges erreichen muss, um mich selbst zu validieren. Die Wertigkeit, die ich Menschen und Dingen in meinem Leben und mir selbst gebe, hat sich verändert. Das hat mir sehr viel Ruhe gebracht. Gleichzeitig bin ich durch meine Operationen und durch diese Erkenntnisse aber auch erschöpft (Anmerkung: Marlene hatte im Zeitraum der Therapie zwei intensive Operationen). Weil der Leistungsdruck von mir abgefallen ist, bin ich in vielen Dingen langsamer.

Wir haben ab und zu über deinen Umgang mit Männern gesprochen. Was hat sich in diesem Bereich für dich verändert?

Ich glaube, dass ich Beziehungen früher anders gesehen habe und dass meine Motivation eine Beziehung einzugehen eine andere war. Ich war dem Thema gegenüber viel ambivalenter und ich habe meine Position in einer Beziehung anders gesehen, als ich das jetzt tue.

Mit Beziehung meinst du speziell die Beziehung zu Männern?

Ja, genau. Wobei ich das auch auf andere Beziehungen übertragen kann. Inzwischen setze ich auch in Freundschaften oder berufliche Beziehungen viel bewusster Grenzen. Früher hatte ich auf der einen Seite die Einstellung, dass ich gar nichts fordern möchte. Ich wollte alles frei und offen lassen. Auf der anderen Seite hatte ich jedoch ein großes Bedürfnis danach Feedback und Bestätigung zu bekommen. Dieser Widerspruch hat sich größtenteils aufgelöst. Mir ist klar geworden, dass es sinnvoller ist, zu wissen, was man will. Und das geht nur, wenn man ein Gefühl für die eigenen Grenzen hat.

Heute bin ich übrigens schneller verletzlich. Im positiven Sinne. Ich glaube ich habe früher viel um mich herum aufgebaut, was mich vermeintlich „unverletzbar“ gemacht hat.

„Verletzlich im positiven Sinne.“ Wie schön. Was ist denn der Wert der Verletzlichkeit?

Ein Gefühl für sich selbst zu haben. Und es okay zu finden, dass man negative Gefühle hat. Leiden zu dürfen und das als ganz normales, gleichwertiges Gefühl zu empfinden. Zu wissen, dass Leiden nichts ist, das man unbedingt meiden muss. Leiden ist auch eine Rückmeldung. Ich heule leider sehr viel seitdem (lacht).

Ich finde es aber okay, nicht mehr ständig Stärke beweisen zu müssen und ich merke, dass ich mir selbst näher bin. Ich fühle mich „einheitlicher“. Ich kann mich selbst besser verstehen und mich spüren und habe nicht mehr das Gefühl, in allem ambivalent zu sein und gegen mich zu handeln. Aber das ist auch irgendwie anstrengend. Ich bin noch nicht an dem Punkt, an dem ich das angenehm finde.

Vielleicht wird es immer ein wenig unangenehm bleiben. Wenn man mehr mitbekommt von sich selbst, mehr spürt und mehr zulässt, dann ist man natürlich häufiger mit herausfordernden Gefühlen konfrontiert. Im Buddhismus heißt es: „Suffering is part of the human condition”.

Ja, das sagen die Christen auch. Allein die Tatsache, dass Jesus am Kreuz gestorben ist, symbolisiert schon sehr viel Leiden. Das Prinzip ist das gleiche: Man kann nicht leben, ohne zu leiden.

Was hat sich durch die Therapie für dich verändert?

Ich bin viel selbstbewusster geworden. Nicht im Sinne von extrovertierter oder mutiger, sondern ich bin mir meiner selbst bewusster. Dadurch ordne ich Dinge anders. Sie haben eine andere Qualität und Priorität. Ich fühle mich auch für die Zukunft gewappneter. Ein Thema von mir war ja: „Wo will ich eigentlich hin“? Und da kann ich nun gelassener sein. Ich habe nun mehr Fundament. Ich bin nicht mehr so wackelig.

Als wir uns kennengelernt haben, hast du überlegt, ob du umziehen oder den Job wechseln möchtest. Was hat sich in Bezug auf das Berufliche für dich verändert?

Weiterhin bin ich neugierig und möchte mich gerne entwickeln. Aber es ist kein Muss mehr. Es ist nicht mehr meine „Fluchtperspektive“. Jetzt treibt mich eher Neugier an. Und wenn es sich nicht ergibt, dann kann ich genauso glücklich werden. Früher habe ich mein Glück eher an äußerliche Dinge gehängt, die mir schneller rückmelden, wie ich bin – oder meine zu sein.

Ich glaube, die Zeit mit dir hat mir vieles bewusster gemacht, das vorher schon da war, das ich aber überhaupt nicht geschätzt habe. Das Überraschendste war für mich das Thema Selbstmitgefühl. Mich einzulassen auf dieses Konzept, das eigentlich gar nicht meins war, hat mir sehr viel von dem gegeben, was ich vorher an anderer Stelle gesucht habe. Das ist für mich eine Motivation weiterzumachen und das finde ich sehr wertvoll.

Das freut mich sehr. Für welche Dinge, die vorher schon in deinem Leben waren, hast du denn eine neue Wertschätzung gefunden?

Zum Beispiel für das, was ich selbst erreicht habe. Ich hatte vorher immer das Gefühl: „Ich muss immer weiter machen und noch einen draufsetzen.“ Ich wusste, ich habe hart gearbeitet, aber ich hatte das Gefühl, dass es nie genug gewesen ist.

Außerdem bin ich mit vielen „Kleinigkeiten“, die jetzt in meinem Leben sind, nun deutlich glücklicher. Ich habe nicht mehr das Gefühl, dass noch etwas Großes passieren muss, das mein Leben aufregender macht. Ich bin nun weniger suchend. Ich brauche weniger äußere Dinge, die mir reflektieren, dass etwas eine Wertigkeit hat.

Ich komme auch mit Dingen besser klar, die ich vorher als Misserfolg gesehen hätte. Zum Beispiel Prokrastinieren. Früher hätte ich gedacht. „Jetzt hast du nichts hinbekommen.“ Inzwischen sage ich mir eher: „Du hast auch mal Ruhe verdient.“ „Sich gönnen können“ hat für mich eine Wertigkeit bekommen – anstatt mich immer nur anzutreiben.

Das klingt das nach einer tiefgreifenden Entwicklung.

Ich empfinde es auf jeden Fall so. Ich finde es auch sehr schön, dass wir immer mit einer Mini-Meditation anfangen. Es gehört für mich dazu, dass ich erstmal runterkommen kann. Ich mag, dass unsere Gespräche ein Hin-und-Her-Reflektieren sind, bei dem du unheimlich gute Perspektiven hast, auf die ich gar nicht gekommen wäre. Ich glaube am meisten bringt mir jedoch, dass die Therapie nicht nur theoretisch-fachlich ist, sondern auch eine ganz empathische Ebene hat.

Als Fazit könnte ich sagen, dass ich mich aktuell deutlich mehr im Gleichgewicht empfinde – weil ich ein Gefühl für mich selber zulasse, das ich vorher nicht hatte.

Du hast erzählt, dass du mit Anfang 20 schon einmal eine Therapie gemacht hast. Wie war die Erfahrung damals für dich?

Das war eine Verhaltenstherapie. Die war viel brutaler. Ich wurde sehr häufig mit meinen eigenen Fehlschlägen konfrontiert, die es galt zu verändern. Da habe ich Auflagen und Aufgaben bekommen und bin in ein engeres Korsett gedrängt worden. Das hat zwar auch an vielen Stellen geholfen, da ich damals etwas orientierungslos war. Aber dein Stil, der deutlich sensibler, emotionaler und persönlicher ist, hat mir jetzt mehr gebracht. Vieles kann man selbst lösen, wenn man ein Gefühl dafür hat, wie man in seiner Gänze funktioniert. Wenn man nicht nur Teilaspekte behandelt und distanzierte Rückblicke macht.

Und vielleicht ist es ja genau das. Du hilfst mir dabei die Distanz wegzunehmen, die ich aufgebaut habe. Das finde ich für mich viel sinnvoller. Das versetzt mich in die Lage, mir selbst zu helfen. Ich bekomme nicht nur von außen eine Methode oder eine Hausaufgabe, um mein Verhalten zu ändern.

Du hast vorhin viel von Leistungsorientierung gesprochen. Anfang 20 vermittelt zu bekommen: „Eigentlich musst du Sachen anders machen“ hat vielleicht die in dir bereits angelegte Leistungsorientierung verstärkt.

Damals hatte ich das Gefühl, die Therapie bringt mir sehr viel, weil sie mich wieder eingenordet hat. Aber ich kam aus dem Leistungsdruck und bin dann weiter gelaufen mit Leistungsdruck … nur eben strukturierter.

Bestimmte Elemente der Verhaltenstherapie können die Tendenz haben, dafür zu sorgen, dass Menschen noch besser in unserem leistungsorientierten System funktionieren – anstatt zu bewirken, dass sie mehr bei sich sind.

Ich habe mich früher stark dagegen gewehrt, mich krank und kaputt zu fühlen. Wenn ich gemerkt habe, dass es mir nicht gut geht, habe ich alles auf die Frage geschoben: „Was soll ich beruflich mit meinem Leben machen?“ Ich dachte, wenn sich meine „Wunschwege“ erfüllen würden, wäre ich wieder glücklich. Das ist dieses Denken von Selbstoptimierung. Wenn ich etwas erreicht habe, dann bin ich wieder glücklich.

Die Selbstoptimierung findet ja leider nie ein Ende. Man kann sein Leben immer noch weiter optimieren. Wenn man beruflich schon optimiert ist, kann man noch seine Ernährung optimieren, den Sport optimieren, die sozialen Aktivitäten optimieren …

Ja, es gibt kein Optimum. Aus der Therapie mit Anfang 20 habe ich eher das Gefühl mitgenommen: „Mir dir stimmt etwas nicht. Du muss verbessert werden. Du musst wieder in Ordnung gebracht werden.“ Ich hatte immer Angst, dass ich nicht okay bin oder dass in meinem Leben etwas kaputt ist.

Heute denke ich: „Das bin alles Ich. Und jedes Ich in mir ist in Ordnung. Jedes Ich ist Teil von mir.“ Alle Teile gleichwertig anzunehmen und nicht zusagen: „Das „gute Ich“ ist besser als das Ich, das wackelt oder leidet oder Hilfe braucht.“ Das ist, glaube ich, ein ganz großer Schlüssel gewesen.

Vielen Dank für das Gespräch!

 
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„Ich habe das Gefühl, mich selbst wieder zu haben.“

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„Ich habe gelernt, auch mal durchzuatmen“